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Stefan Krüskemper
Der Traum vom Raum


Über die freie Bewegung des Subjekts in den Raum erschliesst sich die Wirklichkeit, um die der Körper wahrnehmend kreist. Darüber hinaus erlangt das Subjekt aus dem objekthaften Gegenüber identitätsstiftende Kontinuität. Big bang. Mit der Exponiertheit der Stadt entwickelten sich die ausdifferenzierte Gestalt des müssiggehenden Flaneurs und Kunstformen wie der Situationismus, deren Protagonisten den beschreibenden und kartografierenden Spaziergang durch den öffentlichen Raum verfeinerten. Und: arglos den Schlüssel lieferten, um Stadt grundlegend zu verändern.

Gendarmenmarkt

Die Wirklichkeitserfahrung des Städters heute ist bereits radikal medialisiert und das meint kommerzialisiert. 1 Der Tourist, der eine um die andere Stadt aufsucht, vergewissert sich auf vorgefertigten Wegen und definierten Blickpunkten, dass seine Wahrnehmung mit dem vermittelten Bild der Reisekataloge und Postkartenansichten übereinstimmt. Augmented reality. Das zappen durch die architektonischen Highlights und öffentlichen Räume ist programmiert und enthält gerade soviel Zeit zur freien Verfügung, um einen Kaffee an der nächsten Ecke zu trinken. »Gehören sie zur Reisegruppe. Die haben ja immer so wenig Zeit. Da beeile ich mich mal mit ihrer Bestellung.« Die anschliessende Stadtrundfahrt leitet schon über: Der Besucher ruht klimatisiert in seinem Sessel, während ein durch die Reiseleitung synthetisiertes Bild vor seinen Augen entsteht. Die Stadt wird Kulisse einer medialen Inszenierung zur redundanten Selbstvergewisserung. Die bewegten Akteure sind allesamt Teil eines nicht endenden kulturellen Spektakels codiert in der Symbolik des Mittelstands. Was am Ende fehlt ist ein Berliner Exot als Staffage für ein authentisches Foto dieser Stadt.

Pressebild bearbeitet
Lichtenberg

Nur hat sich durch Segregation und exklusiven Lebensstil die Chance auf dieses Foto verringert. Im Gegensatz zum vertrauten Bild eines homogenen Raums mit klassifizierbaren sozialen »Schichten« besteht heute das Koordinatensystem eines Milieus aus einer Collage verschiedenster Szenerien, dessen Fragmente sich einzig in den Individuen dieser Beziehungsgefüge zu einer Identität verbinden. Die Szenerien eines Milieus dienen als kulturelle Arena: als Treffpunkt von seinesgleichen oder als Ort der Selbstinszenierung und Zurschaustellung des eigenen Lebensstils. Paradigmatisch beschreibt Martina Löw die urbanen Realitäten anhand zweier Milieus, die sich im öffentlichen Raum nie begegnen werden. Anhand des »Niveaumilieus« (höhere Bildung, an Hochkultur orientierter Stiltypus, gute Selbstinszenierung, Genussschema: Kontemplation) und des »Harmoniemilieus« (niedrige Bildung, Distanz zur Hochkultur und Nähe zum Trivialen, ungeschickte Selbstinszenierung, Genusschema: Gemütlichkeit) zeigt sie auf, woraus die Menschen der jeweiligen Milieus ihren Stadtraum synthetisieren: »Für die Angehörigen des ›Niveaumilieus‹ sind es Theater, Museen, Galerien und Restaurants sowie ausgewählte Geschäfte. Sie wohnen in Vororten oder in innerstädtischen Eigentumswohnungen, ihr Bewegungsstil ist Schnelligkeit. Das ›Harmoniemilieu‹ verknüpft angestammte Orte und Einrichtungen wie das regionale Einkaufszentrum, die eigene Wohnung, das Fussballstadion oder auch den Kleingarten miteinander. Die Innenstadt hat für diese Menschen kaum Bedeutung und ihr Bewegungsstil ist langsam.« Und weiter: »So stellt das Harmoniemilieu eine als städtischer Raum gelebte Anordnung her, die weitgehend mit dem Wohnraum übereinstimmt. Im Vergleich dazu scheinen die Orte und Objekte, die das ›Niveaumilieu‹ verknüpft, den Reiseführern von Städten immer ähnlicher.« 2
Auf welche Räume, Bilder und Symbole die einzelnen Individuen zurückgreifen, um ihren Lebensstil zu formulieren, hat mit der Bildung, dem Einkommen und der Generationszugehörigkeit zu tun. Das soziale Beziehungsgefüge eines Milieus und die ihm eigene Kommunikation und Interaktion entwickeln sich dann auf der Grundlage von wechselseitig wahrgenommenen Unterscheidungen und Präferenzen. So entstehen eine Kultur der Differenz und exklusive, auf kleine Gruppen anwendbare Modelle von Urbanität, Identität und Lebensstil.

Ostbahnhof

Ein Austausch zwischen den gesellschaftlichen Modellen ist von seinen Konstrukteuren nicht vorgesehen und findet eher an den Rändern statt. Dieser verläuft dann in Relation zur Grösse der Differenz nicht ohne Reibung. Der Filmemacher Andreas Dresen beschreibt in »Nachtgestalten« 3, wie solche zufälligen Treffen enden. Gewalttätig entlädt sich die Spannung zwischen Suburb- und Drogenmilieu, zwischen gut verdienendem Angestellten und Punk. Möglichkeitsräume dieser Zusammenstösse sind keine innerstädtischen Räume sondern die neuen (und wahren) urbanen Zentren: Der Bahnhof und der Flugplatz sind die Orte von denen sich die Handlung aus entwickelt, da sie als »junkspace« ohne die ausschliessende Symbolik der Repräsentationssorte auskommen und so Netzpunkte unterschiedlichster Lebensmuster geworden sind. Ohne Teilnahme und Verständnis am Anderen, dafür mit Blessuren, trennen sich die Wege der Protagonisten des Films wieder. Ihr Lebensraum war nicht teilbar. Die bequeme Ignoranz dem Anderen gegenüber ist der Preis ihrer fortgeschrittenen räumlichen Individualisierung, die eine konturierte und Identität stiftende Abgrenzung ersetzt hat. Totalitärer Egoismus. Da wo ich nicht bin, »bin« ich nicht.
Die Beschreibung dieser persönlichen Lebensräume und seiner Szenerien trifft nicht, wenn sie im geometrischen Vokabular des Städtischen haften bleibt. Um die Konstruktion, den Entwurf des vom Subjekt eingenommenen Raumes deskriptiv zu halten, muss der Raumbegriff kulturalisiert werden: Erst durch das aktive Erzeugen von Welt und Wirklichkeit durch Wahrnehmung und anschliessender Bewertung konfiguriert sich ein individueller Raum und persönliche Kontinuität. Diese Kontinuität lässt sich nur im Subjekt selbst herstellen: wenn die Erfahrung der Körpergrenze, das Innen, auf das gesamte Konstrukt seiner Welt ausgedehnt ist. »Im Unterschied zur blossen Umwelt, die uns mehr oder weniger sinnlos umgibt, bedeutet Welt eine innigere Zusammengehörigkeit. In einer Welt beziehen wir das Äussere in unser Inneres so mit ein, dass es nicht mehr zu trennen ist. Das Innere und das Äussere bilden einen durchgängigen Lebensraum, der durch uns geleistet wird. (...) Dieser Binnenraum ist der eigentliche Lebensraum. Er ist der unsichtbare Körper des Menschen. (...) Immateriell, akut und nicht deckungsgleich mit der sichtbaren Umwelt.« 4 Hinreichend beschrieben wäre dieser Weltraum, dieser bewohnte Körper ein inneres Abbild des synthetisierenden Subjekts: seines Milieus, seiner Subjektivität und seiner Ziele. Ein kultureller Raum aus Parfüm, Kleidung, Wissen, Vorlieben. Damit einher geht die Gefahr, die Begründung des Menschseins in der körperlichen Wirklichkeit zu verlieren. Und damit das grundlegende Koordinatensystem, das unsere Erfahrung des Selbst durch Grenzen (Innen/Aussen, Körper/Abstraktion) generiert. Das eigene Erleben, mein Verhältnis zum Anderen und die Atmosphäre die ich schaffe, werden zur Syntax, um einen Raum zu entfalten, der nunmehr immateriell und einzigartig ist. Fluktuierend und fragmentarisch. Der entsteht, weil ein Subjekt ihn ergreift und Stadt nennt: Die individualisierte Stadt. Ein exklusiver Erlebnisraum des sich selbstverwirklichenden Menschen.

Strasse des 17. Junis

Das verinnerlichte neoliberale Bild dieser Selbstverwirklichung und damit der Raumergreifung ist aber auf der einen Seite längst zum Fluch geworden und hat sein emanzipatorisches Potential eingebüsst. Postfordistischer Kapitalismus heisst eben: Migration, Segregation und Gentrifizierung. Auf der anderen Seite öffnet die Kulturalisierung des Raums Tür und Tor für die Kommerzialisierung der Lebensstile. Durch die alle Lebensbereiche erfassende Ökonomisierung und die damit einhergehenden kulturellen Verwertungsmechanismen ist Subjektivität zum potentiellen Produkt mutiert. Da das Konstrukt einer Lebenswelt und -wirklichkeit sich zum einen aus kommerzialisierten Elementen, wie angeeigneten Symbolen und Raumimages zusammen setzt und zum anderen aus ihrer damit verbundenen authentischen (und verwertbaren) Subjektivität, lassen sich gewinnbringend Lebensstile über mediale Träger in andere soziale Bereiche transferieren. Allerdings nie ohne den Verlust einer Dimension, die den Lebensraum auf sein Image reduziert. Die Loveparade ist für viele eine kulturelle Enteignung und Entwertung eines Teils ihres Weltraums gewesen, wie sie für andere eine kommerzielle Erweiterung ihres Lebensstils darstellte. Aus diesem Verlust des Identität stiftenden Authentischen und der Korrosion der emanzipatorischen Raumergreifung durch ökonomische Prozesse erwachsen konservative Modelle von Urbanität, Heimat und Community dessen innerer Kern sich gleicht: sie sind ersehnte Simulationen von Erinnerungsimages, die so nie existierten.


Dabei ist es interessant zwischen Imitation und Simulation zu unterscheiden. Slavoj Zizek beschreibt in »Die Pest der Phantasmen«, dass Simulationen den Anschein von Wirklichkeit erzeugen, sie aber nicht abbilden. »Mit anderen Worten, Imitation imitiert ein präexistierendes Modell des wirklichen Lebens, während die Simulation den Anschein einer nicht existierenden Realität generiert – es simuliert etwas, das nicht existiert. (...) Die Konsequenzen aus dieser Unterscheidung von Imitation und Simulation sind radikaler als sie scheinen mögen. Im Gegensatz zur Imitation, welche den Glauben an eine präexistente ›organische‹ Realität aufrechterhält, ›denaturalisiert‹ Simulation rückwirkend die Realität auf dem Wege der Erschliessung der Mechanismen, die für ihre Generierung verantwortlich sind.« 5 Diese Erkenntnisverschiebung hin zu einer abstrakten Ordnung die jegliche Realität generiert, bedeutet für Zizek konkret dass, das Feld der Anschauung auf eine (Ober-)Fläche reduziert wird während »Realität« selbst als visuell Halluzinatorisch wahrgenommen werden kann.

Potsdamerplatz Arkaden

Paradigmatisches Beispiel ist die Mall. Ein exklusiver und privater Ort, der in allen seiner Bereiche kommerzialisiert ist. Seine Anziehungskraft entwickelt er als Surrogat von Öffentlichkeit, Kommunikation und urbanem Leben. Tatsächlich ist es ja auch ein urbaner Raum der nach kollektiven Erinnerungsimages und Sehnsuchtsbildern von Stadt restrukturiert wurde, dabei allerdings unbewusste oder verdrängte Bestandteile der Erinnerung nicht erkundet, sondern gänzlich eliminiert und damit den Anschein einer neuen Urbanität generiert. Diese Urbanität ist die Summe der Vorstellungen, die man sich von dem erinnerten Image »Piazza« macht und entwickelt daher ein Eigenleben, unabhängig von der Realität des imaginierten Ortes. Sie ist somit nicht gebunden an die Präsenz des Imaginierten, sie steht ausserhalb des Raumes.6 Und ist damit kein imitierendes Abbild.
Im offensichtlich dreidimensionalen Gebilde der Mall könnte sich Wirklichkeit durch die Bewegung meines Körpers erschliessen lassen. Bei genauerer Betrachtung stellen sich die Bestandteile dieser Lokalitäten aber selbst als Bilder heraus. Als glattgebügelte und perfekte frainchising Konzepte, die nicht mehr, aber auch nicht weniger, als eine produktrelevante Fassade und Atmosphäre erkennen lassen. Wie umfassend produktübergreifende Konzepte in unser Leben eingreifen und wie sehr Firmen mit kulturellen Strategien arbeiten beschreibt Naomi Klein in »no logo«: »Meiner Ansicht nach hat dies mit der natürlichen Anziehungskraft des Utopismus oder seiner lllusionen zu tun. Man sollte nicht vergessen, dass der Vorgang des Branding damit beginnt, dass Menschen um einen Tisch sitzen und versuchen, ein ideales image heraufzubeschwören; sie wenden Begriffe wie ›frei‹, ›unabhängig‹, ›rau‹, ›angenehm‹, ›intelligent‹ und ›hip‹ hin und her. Dann machen sie sich daran, reale Möglichkeiten zu finden, diese Ideen und Attribute zu verkörpern, zuerst durch Marketing, dann durch bestimmte Verkaufsräume wie Superstores und Kaffeeketten, und schliesslich - wenn sie wirklich führend sein wollen - durch die totalen Lifestyle-Erfahrungen wie Freizeitparks, Lodges, Kreuzfahrtschiffe und Städte. (..) Zum ersten mal seit Jahrzehnten errichten Gruppen ihre eigenen idealen Gemeinschaften und bauen konkrete Denkmäler. (...) Die emotionale Kraft dieser Enklaven liegt in ihrer Fähigkeit, eine nostalgische Sehnsucht einzufangen und dann intensiv aufzublähen: Diese Kreationen können leicht unheimlich wirken und an science fiction erinnern, dennoch sollte man sie nicht als krassen Kommerz für die gedankenlosen Massen abtun: es sind - im positiven oder negativen Sinn - privatisierte öffentliche Utopien.« 7 Der Besucher der Mall ist als passiver Konsument des Städtischen, Bestandteil einer Inszenierung geworden, die in ihrer Minderdimensionalität auf Fernsehniveau reduziert ist. Für den »Flaneur« der Mall heisst das: Der Gewinn an Erfahrung durch die Bewegung im Raum gleicht der Erkenntnis beim Betrachten eines Werbeclips. Ein Erinnerungsclip vom öffentlichen Raum.

Brandenburger Tor

In Folge der Bewegung eines Subjekts in den Raum konstituiert sich dieser als öffentlich durch die Wahrnehmung eines Gegenüber, eines fremden Anderen. Dennoch bleibt Öffentlichkeit zunächst eine Abstraktion, da der subjektive Blick des Betrachtenden die Realität des Anderen, des Objekts nur in innere Vorstellungen transformiert. Erst im Verschwinden des Objektcharakters des Gegenüber und der Wahrnehmung selbst Teil dieses Prozesses einer sich mir entziehenden Vorstellungsbildung zu sein, entstehen die vielfältigen Abstufungen eines öffentlichen Raums und seiner Aktionsfelder. Ich sehe und werde gesehen. Diese Ebene der Emotionalität der sich gegenseitig Betrachtenden und die Unbestimmtheit der Situation, die damit verknüpft ist, unterscheidet sich existentiell vom rein visuellen Vorstellungsbild, das keine Teilnahme erfordert. Demgegenüber ist der Blick aus dem geschützten Privaten heraus, ohne die Möglichkeit oder den Wunsch zur Interaktion, voyeuristisch und damit keineswegs öffentlichkeitsstiftend. Er ist passiv und bleibt distanziert. Dieser visuelle Fernsehblick erfordert keine Handlung und keine teilnehmende Verbindung zum Gesehenen. Der private, nicht erwiderte Blick als solches erwartet und generiert allenfalls eine zweidimensionale Sequenz, aber keinen (öffentlichen) Raum der Aktivität. Insofern verwundert es nicht, dass die Begriffe »öffentlich« und »privat« mit den Erwartungen an Besitzverhältnisse verbunden wurden und das Ordnungssytem der Stadt bildeten.
Zeitgemässe Repräsentationsrituale im öffentlichen Raum zielen allerdings nicht mehr auf konkrete Reaktionen der körperlich Anwesenden, sondern wirken ausschliesslich über die Verbreitung und Multiplikation durch die Massenmedien. Fernsehanstalten erreichen durch die Berichterstattung zwar Öffentlichkeit, konstituieren sie aber nicht. Die entsteht zwangläufig erst »ausserhalb« des Mediums. Nach dem Ausschalten. Entspricht das Erlebnis Mall dem privaten Fernsehkonsum, dann ist der funktionierende öffentliche Raum mit der Komplexität, Dezentralität und Interaktivität eines Computernetzwerks, wie den peer-to-peer Kontakten über Gnutella 8 zu vergleichen. Oder dem Internet. Noch.
Das Mass des Freiheitsgrades und der damit einhergehenden Unbestimmtheit des Objekts, ergeben den sich lösenden Funktionszusammenhang von öffentlichen und privaten Sphären. Denn im kommerziellen Konkurrenzkampf gegen die Mall oder den peripheren Einkaufszentren wurden die ertragversprechendsten öffentlichen Plätze ausgewählt, aufgerüstet und der Imagemaschinerie der Städte untergeordnet. So herausgeputzt, überinstrumentiert und seiner früheren Unbestimmtheit beraubt hat der Platz das ihm innewohnende integrative Moment verloren. Robert Kaltenbrenner, Publizist und Leiter der Abteilung Bauen, Wohnen, Architektur im Bundesamt für Raumordnung schreibt dazu: »Denn den fundamentalen, gesellschaftlichen Verlust an vielfältig nutzbaren öffentlichen Raum versuchen Stadtverwaltungen nun mit einer geradezu obsessiven Gestaltung der verbliebenen, vor sich hin kümmernden Räume aufzufangen. Dem Modell der Privaten folgend, wird auch die öffentliche Domäne, vornehmlich an ausgewählten stellen in der City, von der Stadtverwaltung verschönt – und zugleich in eine enge Funktion gezwängt, die ihren Charakter als Multioptionsraum nicht zuträglich ist.« 9 Milde formuliert. »Indem jedoch die öffentliche Hand immer stärker in eine Rolle gleitet, die sie einem privaten Investor oder Developer ähneln lässt, verschieben sich die Gewichte. Einer Stadt, die heute noch keine Marke ist fällt es schwer, ökonomische, gesellschaftliche und kulturelle Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.« Im Grunde würde der Vorschlag, Plätze genauso wie die Bahn zu privatisieren, um den ökonomischen Ertrag aus Events, medialen Repräsentationsritualen und Cafenutzung marktwirtschaftlich zu nutzen, niemanden mehr überraschen. Die Service GmbH übernimmt die kulturelle Verwertung des öffentlichen Raums und bringt durch den Verkauf etwas Geld in die leeren Kassen der Kommunen.

Babelsberg

Oft nicht weit von den gegenwärtigen aufpolierten Erinnerungsräumen des öffentlichen Platzes oder der privaten Mall entfernt, verwahrlost ein ehemals intakter Bereich der Stadt nach dem anderen. Durch städtisches Branding, der Ökonomisierung des Raums und der Privatisierung des Öffentlichen entziehen diese schwarzen Löcher dem Restkörper der Stadt Energie und polarisieren. Polarisieren offensichtlich zwangsläufig: in medialisierte Bereiche der Stadt, die ihre historische und soziale Authentizität durch den Prozess der Ökonomisierung verloren haben, um in der Abstraktion neu codiert wieder zu entstehen, und in die zurückgelassenen urbanen Orte des Unbewussten und der Restkörperlichkeit, der diejenigen Menschen auffängt, die anderswo unerwünscht sind.
Martin Burckhardt liefert in »Geist der Maschine« 10 einen allgemeineren Erklärungsansatz für diese Dichotomie der Stadt, die ja von ihren entwurzelten und die Abstraktion suchenden Citoyen grundlegend umgestaltet wird. Anhand des Turing-Tests beschreibt er: Zwei Personen werden vom Testleiter befragt ohne dass er die Personen sehen kann. Beide behaupten weiblich zu sein, obwohl es nur eine Person ist. Über die Antworten kann der Testleiter entscheiden, welche Person lügt (in dem Film »Bladerunner« 11 ist dieser Test im landläufigen Sinne verwendet, um zwischen Mensch und Maschine zu unterscheiden). Das Entscheidende ist: In diesem Test wird der Körper des Menschen zur reinen Kommunikation und zum Image. Über das die Probanten sich deshalb »wahrhaft« mitteilen, um eines Körpers habhaft zu werden. In diesem Prozess einer »organischen Medialisierung« löst sich Körperlichkeit im universalen Raum der Zeichen, der Sprache und – aufgezeichnet zur Weiterverarbeitung – der Schrift auf und hinterlässt diese unüberbrückbare Lücke zwischen der Beschreibung und dem Beschriebenen. Das ist die Eintrittsvoraussetzung in die mediale »Wirklichkeit« und damit die Möglichkeit ihrer ökonomischen Verwertung.
Abgespalten und unsichtbar bleibt die »dunkle« Seite der Wirklichkeit im Stuhl sitzen, der reale Körper, während er im immateriellen Sprachraum eine eigene, losgelöste Identität entwickelt. Hier trennen sich nicht Subjekt und Objekt, sondern die Grunderfahrung der Einheit eines Selbst. Burckhardt sieht paradigmatisch in dem Weg wie Turing sich durch einen vergifteten Apfel umbringt, Schneewittchen. Und die abgespaltene Seite: Turings zurückgelassenen und fremd gewordenen Körper. Der Preis des homosexuellen Mathematikers ist in dieser Konsequenz die unmögliche Trennung seines Körpers von dem Abstraktum für das er lebte und damit schlussendlich sein Freitod gewesen. Teleexistenz. Allegorischer: Viele heutige Lebensäusserungen sind engelhaft in dem Sinn, dass der gelöste Mensch körperlos im Raum »erscheint«. Mit Hilfe der Medien betrachtet er Entferntes, agiert über Interfaces mit Maschinen oder kommuniziert mit Seinesgleichen. So finden wir ihn im technischen Medium Internet wieder, um hier im Chat oder dort im Spiel seinen transsexuellen Avatar ins Rennen zu schicken. Darauf sich mit seiner »Nachtgestalt« verbinden: duschend den eigenen Körpergeruch mit Egoist ersetzen. Das Eine (die Medialisierung) ist wohl nicht ohne das Andere (die Lücke) zu denken.

Stadtschloss

Persönliche Kontinuität und Identität konstituieren sich nicht mehr aus der Verortung in einem homogenen Raum eines Stadtviertels, sondern aus konstruierten Szenerien, die sich fragmentarisch aus zeitlich strukturierten Räumen individuell zusammensetzen. Dieser personalisierte Erlebnisraum ist medial und öffnet daher die Pforten für kommerzialisierte Erinnerungsbilder, Images (Simulationen, Produkte, Inszenierungen) und Szenen, die subjektiv als erweiterte Körpergrenze erfahren werden. Damit erschliesst sich Wirklichkeit nicht über die freie Bewegung des Subjekts, sondern über eine medialisierte Rezeption und Produktion, genauer: durch die Bewertung des immateriellen Produkts »kultureller Raum« durch passive Konsumenten. Auch: durch ihre aktiven Produzenten. Diese Medialisierung resultiert aus der Abstraktion gezielt codierter öffentlicher Räume oder deren Utopie. Damit einher geht die Privatisierung als ein Ergebnis der Ökonomisierung des Alltags anhand von kulturellen Verwertungsmechanismen. Dem Verdampfen des öffentlichen urbanen Raums begleitet die Schlacke seiner Verwahrlosung. Ist der verwertbare Raum Abstraktion geworden, so verkörpern die vergessenen urbanen Restflächen die Abwesenheit und damit: zwangsläufig ihr Erstarken. Nicht von ungefähr finden diese Räume das Interesse der Subkulturen, steckt doch im Tod die Auferstehung und der Neuanfang. The dj`s in the house: Engel aus der Asche? Es schliesst sich nur ein Kreis. Der Verheissung, die Kulturalisierung der Lebensräume und den Prozessen der Raumergreifung durch künstlerische Praktiken zu begegnen, stehen die ökonomischen Verwertungsmechanismen entgegen. So ist der Schritt den öffentlichen Stadtraum aufzugeben notwendige Bedingung zu einer erst beginnenden Auseinandersetzung.

Stefan Krüskemper (www.krueskemper.de)

 

 

  bik Autor des Projekts »parkTV« ist das buero für integrative kunst. Die Basis von dem buero ist die Kooperation über die Grenzen der Professionen hinaus...
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1. Was heisst schon medial? Die Erfahrung von objekthafter Wirklichkeit vermittelt sich immer über ein Medium. Dieses Medium generiert und transportiert ein zeitliches Bild, eine Vorstellung einer ansonsten irrelevanten, da nicht wahrgenommenen, Wirklichkeit. Insofern ist zum Beispiel das Hirn ein »organisches« Medium im Gegensatz zum technischen Medium des Films. In beiden Fällen reisst die Wahrnehmung eine Lücke zwischen Vorstellung und Objekt. Ein Medium erweitert innerhalb seiner Kategorien den Horizont meiner Realitätswahrnehmung. Innerhalb der Kategorien meint: der Film sagt mir oft mehr über den Autor, die Dramaturgie und seine Absicht als über den eigentlichen Gegenstand der Betrachtung. In diesem Zusammenhang des Textes ist aber die kommerzielle Verwertungsmöglichkeit von zentraler Bedeutung, die im kulturellen immer mediale Träger benötigt. Hier sei Boris Groys Kulturökonomie erwähnt. Durch den Transport von etwas Profanen in den kulturellen Raum entsteht Mehrwert und etwas Neues. Damit einhergehend werden bestehende kulturelle Werte in Frage gestellt und entwertet. Heutige Ökonomie bedient sich dieses Zusammenhangs.


2. Vgl: Martina Löw zitiert von Regina Bittner, in »Die Stadt als Event«, hg: Regina Bittner, Edition Bauhaus, Campus Verlag Frankfurt, New York, 2001


3. »Nachtgestalten«, D 1999. Regie und Buch: Andreas Dresen. K: Andreas Höfer. M: Cathrin Pfeifer, Rainer Rohloff. D: Dominique Horwitz, Meriam Abbas, Michael Gwisdek,Oliver Bäßler. 103 Min.


4. »Der Raum, Prolegomena zu einer Architektur des gelebten Raumes«, Franz Xavier Baier, Verlag der Buchhandlungen Walther König, Köln.


5. »Die Pest der Phantasmen«, Slavoj Zizek, Passagen Verlag, Wien 1997


6. »Das Image einer Person (oder eines Objekts) ist weit mehr als ein Abbild. Es ist die Summe der Vorstellungen, die man sich von der Person macht. Es entwickelt daher ein Eigenleben, unabhängig von der Realität der imaginierten Person. Es ist somit nicht gebunden an die Präsenz des Imaginierten, es steht ausserhalb des Raumes.« telepolis, heise.de/tp, Christian Gapp, 21.07.2002


7. »No logo«, Naomi Klein, Riemann Verlag, 2001


8. http://www.gnutella.org


9. Essay: »Bloss nicht zu hübsch«, Robert Kaltenbrunner, Tagesspiegel vom 6. April, 2002


10. »Vom Geist der Maschine«, Martin Burckhardt, Campus Verlag Frankfurt, New York, 1991


11. »Bladerunner«, USA 1982, Regie: Ridley Scott, Nach einer Novelle von: Philip K. Dick. D: Harrisin Ford, u.a.

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